Arbeit und Industrie

Arbeit und Industrie

Die Elektrifizierung der Industrie

Um 1800 setzte zuerst in England und bald auch in der Schweiz die Industrialisierung ein. Das bedeutete die Ablösung des traditionellen Handwerks durch Fabrikarbeit in immer mehr Bereichen. Von nun an wurden gewerblich produzierte Massengüter in einer arbeitsteiligen Organisation, mit einem wachsenden Maschineneinsatz und mit aus Kohle oder Wasser erzeugter Energie hergestellt. In einer ersten Phase, der sogenannten ersten industriellen Revolution, betraf die Industrialisierung vorwiegend die Textilherstellung, ab 1860 entstanden die Maschinen-, Elektro- und die Nahrungsmittelindustrie sowie die chemische Industrie (zweite industrielle Revolution). Die Automatisierung durch Elektronik und Computertechnologie läutete um 1970 die dritte industrielle Revolution ein.

HABEN SIE GEWUSST?

Die Einführung der Glühbirne verlängerte den Arbeitstag bis in die Dunkelheit.

Ein zentrales Element der zweiten industriellen Revolution war die Elektrifizierung. Die wichtigsten Innovationen für die Anwendung der Elektrizität in der Industrie waren die Entwicklung des Generators, welcher Bewegungsenergie in elektrische Energie umwandelt, und seines Gegenstücks, des Elektromotors, der elektrische Leistung in mechanische Leistung umwandelt. Schon in den 1830er Jahren wurden erste praxistaugliche Elektromotoren entwickelt, doch erst der Dynamo, den Werner von Siemens 1866 patentieren liess, ermöglichte die Erzeugung von elektrischer Energie in einem grösseren Umfang. Ein weiterer Knackpunkt war die Übertragung des Stroms über weite Distanzen. Hier brachte der Übergang vom Gleichstrom zum Wechselstrom den Durchbruch.

Mit dem Bau der grossen Elektrizitätswerke und der Stromnetze ab den 1880er Jahren stellten viele Länder grossflächig elektrische Energie bereit, was die Voraussetzung für die Elektrifizierung der Industrie war. 1914 gab es in der Schweiz 258 Elektrizitätswerke; ein Hochspannungsnetz verteilte die elektrische Energie über das ganze Land. Der Kanton Bern war damals der drittgrösste Stromproduzent unter den Kantonen (hinter Wallis und Graubünden), 1928 befand er sich auf Platz zwei hinter dem Wallis.

Die Industrialisierung in Thun

Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Stadt Thun ein regionales Marktzentrum mit traditionellen, auf die Stadt und ihr Umland ausgerichteten Gewerbe- und Handelsbetrieben. Für den wirtschaftlichen Aufschwung und die Ansiedelung von industriellen Betrieben brauchte es mehrere Voraussetzungen, die in Thun erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gegeben waren:

Transport: Die Stadt wurde 1859 an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Von nun an konnte man sich per Bahn kostengünstig die Ausgangsmaterialien für die industrielle Produktion liefern lassen und die Endprodukte an die Kundschaft verschicken. Die Bahn brachte ausserdem den billigen Energieträger Kohle nach Thun.

Energie: Mit dem Aufbau der Licht- und Wasserwerke stellte die Stadt dem Gewerbe und den nun entstehenden grösseren Betrieben Licht und Energie bereit. Die wichtigen Etappen waren der Bau des Gaswerks 1862, das aus Kohlen Stadtgas und Koks produzierte, die Erstellung des Gewerbekanals und des Grundwasserpumpwerks mit zwei leistungsfähigen Turbinen 1883, der Einbau eines Gleichstromdynamos in das Grundwasserpumpwerk 1891 und schliesslich die Eröffnung des Elektrizitätswerks 1896. Als wirtschaftliche Fördermassnahme bemühte sich die Gemeinde, die Wasser-, Gas- und Strompreise für gewerbliche und industrielle Anwendungen niedrig zu halten.

Know-how: Die lokalen Gewerbetreibenden und die Behörden benötigten Informationen über die neusten technischen Entwicklungen in der Elektro- und Maschinenindustrie. Eine wichtige Plattform dafür waren Ausstellungen. 1899 fand in Thun eine grosse kantonale Gewerbe- und Industrieausstellung statt. In der Maschinenhalle waren die bedeutendsten Maschinenfabriken und Fabriken für Kleinmotoren vertreten, präsentiert wurden «Motoren aller Art: Wasser-, Petrol-, Benzin-, elektrische, die in Bewegung gesetzt werden.» Noch musste erklärt werden, wofür sich die Maschinen eigneten: «Diese kraftliefernden Maschinen dienen: Zum Antrieb von Eisenbohrern, Mühlen, Pumpen, Lichterzeugungsmaschinen etc.»

Marktzugang: Die Rohstoffe, aber auch die Maschinen, Motoren und elektrotechnischen Apparate mussten erhältlich sein – entweder bei grossen schweizerischen Maschinen- und Elektrounternehmen oder in lokalen mechanischen Werkstätten, die ihr Sortiment diesbezüglich erweiterten, wie zum Beispiel die Thuner Firma Aeschlimann. Zudem brauchten die Firmen einen Absatzmarkt für ihre Produkte.

Die Industrialisierung in der Stadt Thun nahm im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts allmählich Fahrt auf. Hilfreich dabei war, dass der Bund 1863 mit den Eidgenössischen Militärbetrieben zwei grosse Industriebetriebe auf dem Waffenplatz ansiedelte. Einige der ersten privaten Industriebetriebe in der Stadt Thun – so die Hoffmann und die Selve – dienten ursprünglich als Zulieferer für den Waffenplatz. 1904 befanden sich unter den zehn besten Steuerzahler der Stadt vier Industriebetriebe und Fabrikanten. Es waren diese: Gustav Selve (Metallverarbeitung), Adolf Lanzreins Söhne (Mühle), die Licht- und Wasserwerke Thun sowie Friedrich Zwahlen (Möbelfabrikant). Wenige Jahre später gesellte sich die Käsehandlung Gerber & Cie hinzu, die ab 1911 industriell Schmelzkäse produzierte. An der Spitze der Aufzählung müssten eigentlich die Eidgenössischen Militärbetriebe stehen, die jedoch als Bundesbetriebe keine Steuern zahlten. Die Bedeutung der Militärbetriebe zeigt sich jedoch in der Zahl der Arbeitskräfte: 1895 waren in der Region Thun 33 Gewerbe- und Industriebetriebe dem eidgenössischen Fabrikgesetz unterstellt. Das bedeutet, dass sie mindestens sechs Arbeiterinnen und Arbeiter beschäftigten. 1895 arbeiteten von den insgesamt 1496 im Amt Thun erfassten Arbeitskräften 1018 in den Militärbetrieben; 1911 waren es 1056 von 2018.

Die wichtigsten Industriebetriebe, die in Thun zwischen 1860 und 1914 entstanden und längerfristig Bestand hatten, waren die Selve, die Hoffmann und Gerberkäse. Auffallend ist, dass sie alle nicht von Thuner Gewerbetreibenden, sondern von auswärtigen Unternehmern gegründet wurden. Die Gründe für die Passivität der Einheimischen – die im Übrigen in der Stadt Bern ähnlich war – wurden noch nie näher untersucht.

Die Vorteile der Elektrizität für die Industrie

Im ausgehenden 19. Jahrhundert galt die Elektrizität in der Industrie als die Energieform der Zukunft, was auch der Ausstellungsführer zur bernisch-kantonalen Gewerbe- und Industrieausstellung 1899 in Thun hervorstrich: «Zunächst fesselt uns eine mächtige Übersichtskarte der Elektrizitätswerke der Schweiz, vielleicht die erste ihrer Art. Sie gibt uns einen klaren Überblick über die bestehenden Werke und ihre Netze, mit ihr steht in einem ungünstigen Gegensatz die Gas- und Wasserwerkkarte gegenüber, die schlagend beweist, wem, dem Gas oder der Elektrizität, die Zukunft gehört.»

Die Vorteile der Elektrizität gegenüber den anderen Energieträgern lagen für die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen auf der Hand und gelten weitgehend bis heute: Die Elektrizität ist vielseitig verwendbar und in der Produktion und Anwendung sauberer als Kohle. Im Gegensatz zum Stadtgas ist sie nicht giftig und kann nicht explodieren. Elektrizität ist ein Sekundärenergieträger und wird aus verschiedenen Primärenergiequellen produziert: Aus Wasserkraft, Wind- und Sonnenenergie, aber auch aus Kohle, Gas oder durch Kernspaltung aus Uran. Schon um 1900 war eine wichtige Motivation zur Verwendung der Elektrizität, dass Strom mit einheimischer Wasserkraft produziert und so die Abhängigkeit von Kohleimporten verringert wurde. Dieses Argument gewann im Ersten und im Zweiten Weltkrieg eine immense Bedeutung, weil damals die Kohleimporte stockten.

Derzeit wird es im Zeichen der Klimaerwärmung für die Industrie immer wichtiger, den CO2-Ausstoss niedrig zu halten. Bei der Anwendung der Elektrizität entsteht kein CO2, doch je nachdem, aus welcher Primärenergie der Strom produziert wird, ist seine CO2-Belastung unterschiedlich gross. Der Nachweis, mit Wasser-, Wind- oder Solarenergie zu produzieren, ist heute für viele Gewerbe- und Industriebetriebe, aber auch im Dienstleistungssektor ein wichtiges Image- und Werbemittel.

Wasserräder, Turbinen, und Transmissionsanlagen

Die Industrialisierung begann lange vor der Elektrifizierung. In der Schweiz des 19. Jahrhunderts nutzten zahlreiche Gewerbe- und Industriebetriebe wie Mühlen, Sägen, Stampfen oder Spinnereien die Wasserkraft, die sie in mechanische Energie umwandelten, entweder mit Wasserrädern oder den Turbinen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt worden waren. In der Region Thun konnten sich zwar damals keine grösseren Textilbetriebe ansiedeln wie im Zürcher Oberland. Trotzdem wurde auch hier die Wasserkraft für Mühlen, Sägen, Stampfen und Walken genutzt. 1889 gab es im Amt Thun 65 Wasserwerke. 56 davon waren traditionelle Wasserradwerke, die mit einer Ausnahme weniger als 20 PS lieferten. Viel effizienter waren die neun Turbinenwerke, von denen acht in der Stadt Thun standen. Drei davon produzierten weniger als 20 PS, fünf 20 bis 99 PS und eines – die Turbinenanlage im Grundwasserpumpwerk der Stadt Thun – lieferte 150 bis 190 PS. Seit dem Aufbau der Wasserversorgung um 1870 hatten die Thuner Gewerbler eine weitere, aber teure Möglichkeit, um an Wasserkraft zu kommen: Sie konnten einen Wassermotor, zum Beispiel eine kleine Turbine, mit Leitungswasser antreiben. Die Licht- und Wasserwerke Thun sahen das nicht besonders gern, weil sie in trockenen Zeiten Mühe hatten, genug Wasser bereitzustellen und mit den Wassermotoren kostbares Trinkwasser verschwendet wurde. Damit mehrere Maschinen von einer zentralen Energiequelle aus betrieben werden konnten, wurde die Energie über Wellen aus Stahl, Riemenscheiben und Transmissionsriemen auf die Maschinen übertragen. Weil die Übertragungsverluste, der Materialverschleiss der Riemen und der Wartungsbedarf gross waren, machte es wenig Sinn, Energie mit diesem System über weite Strecken zu übertragen. Die Gewerbe- und Industriebetriebe, die das Wasser als Energiequelle nutzten, waren deshalb an geeignete Standorte an Bächen und Flüssen gebunden. Etwas besser übertragen liess sich die Energie, wenn die Riemen nicht wie üblich aus Textilmaterial oder Leder bestanden, sondern aus Drahtseilen. In Thun gab es nur wenige Drahtseiltransmissionsanlagen, so etwa in den Eidgenössischen Betrieben. Weil die beiden Turbinen im Grundwasserpumpwerk von 1883 mehr Energie produzierten, als die Grundwasserpumpen benötigten, lieferte die Stadt ab 1885 mechanische Energie über eine Drahtseiltransmission an die etwa 250 Meter entfernte Schiefertafelfabrik Schüpbach und Karlen (später Leuthold).

Die ersten Elektrizitätswerke dienten wie die Wasserwerkanlagen oder die Dampfmaschinen und Turbinen dem Antrieb von Maschinen über Transmissionssysteme. Doch mit der Verkleinerung des Elektromotors wurde es noch vor dem Ersten Weltkrieg möglich, jede einzelne Maschine mit einem eigenen Elektromotor anzutreiben. Elektromotoren waren leistungsstark, brauchten nicht viel Wartung und machten die Maschinen in einem Betrieb weitgehend standortunabhängig. Ausserdem kann man elektrische Energie über Kabel viel schneller und verlustärmer übertragen als mechanische Energie über Transmission. Deshalb verschwanden die Transmissionssysteme nach und nach aus den Industriebetrieben.

Die Elektrifizierung hatte für das Gewerbe und die Industrie einen weiteren grossen Vorteil: Weil die Elektrizität dank dem Stromnetz über weite Distanzen übertragen werden kann, konnten sich die Betriebe von den Wasserläufen lösen und ihre Standorte freier wählen. Deshalb gaben Gewerbe- und Industriebetriebe oft ihre betriebseigenen Wasserwerke auf und bezogen fortan den Strom vom Elektrizitätswerk.

Von 33 grösseren Firmen in der Region Thun, die 1895 dem Fabrikgesetz unterstellt waren, betrieben zehn ihre Motoren mit Wasserkraft, wobei die Frutiger (Säge in Oberhofen) und die Aktienbrauerei Feller im Schwäbis zusätzlich Dampfmaschinen besassen. Acht Betriebe arbeiteten mit Elektromotoren. 1911 besassen von 30 dem Fabrikgesetz unterstellten Firmen 18 Elektromotoren, drei davon produzierten zusätzlich noch mit Wasserkraft. Nur noch zwei Firmen erzeugten Energie lediglich mit Wasserkraft, vier kombinierten Wasserkraft und Dampfmaschinen. Die grossen Energieverbraucher waren 1895 die Eidgenössische Munitionsfabrik, die Schweizerischen Metallwerke Selve und die Mühle Lanzrein, 1911 gesellte sich noch die mechanische Werkstätte Aeschlimann hinzu. Zählt man die PS der Motoren zusammen, die in den vom Fabrikgesetz erfassten Firmen standen, dann zeigt sich der schnell wachsende Energiebedarf der Thuner Industrie: 1895 besassen alle Motoren zusammen 635 PS, 1911 waren es bereits 2’806 PS. Auch die Elektromotoren waren nicht nur zahlreicher, sondern auch leistungsstärker geworden. 1895 besassen sie gemeinsam 70 PS, 16 Jahre später beinahe das Zehnfache.

Die Licht- und Wasserwerke liefern erstmals Strom

Die erste Firma, die der Stadt elektrischen Strom abkaufte, gehörte dem Unternehmer Eduard Johann Hoffmann (1843–1931). Die Eidgenössische Munitionsfabrik suchte um 1890 ein Produkt, um Patronen einfach in Armeegewehre laden zu können und schrieb dazu einen Wettbewerb aus. Der in Österreich geborene Zürcher Unternehmer fand die beste Lösung und erhielt den Auftrag, Ladehilfen herzustellen. Daraufhin kaufte er im Aarefeld eine ehemalige Liqueurfabrik, wo er seine Fabrik ansiedelte. Im April 1891 erlaubte der Thuner Gemeinderat Hoffmann die Einrichtung einer Fabrik für Cartonnage-Arbeiten «mittelst elektrischer Kraft». Im gleichen Jahr stellte die Stadt einen 25 PS Gleichstromdynamo ins Grundwasserpumpwerk, um überschüssige Wasserkraft in elektrische Energie umzuwandeln. Dies erlaubte es der Firma Hoffmann elektrischen Strom von der Stadt zu beziehen. Die Freileitung, die längs der Aare vom Grundwasserpumpwerk zur Fabrik von Hoffmann im Aarefeld führte, war auf einem Holzgestänge montiert und etwa einen Kilometer lang.

Der Blick in die Blechwarenfabrik Hoffmann & Söhne in Thun während des Ersten Weltkriegs. (Quelle: Schweizerisches Bundesarchiv, Signatur E27#1000/721#14095#5179*)

1895 beschäftigte Hoffmann 59 Personen. Als sich die Armee 1897 entschied, die Patronenladeschachteln selbst herzustellen, sattelte die Firma auf die Produktion von Blech- und Kartonverpackungen um. Offenbar erfolgreich, denn 1911 war ihre Belegschaft auf 93 Personen angewachsen. 1963 bis 1988 verlagerte die Hoffmann ihre Produktion ins Gwatt und fusionierte 1998 mit der Neopac in Oberdiessbach. Sie beschäftigt heute rund 200 Personen und stellt Tuben und Dosen her.

Private Stromproduktion in Thun

Die Thuner Gewerbetreibenden, die in den Kanälen links und rechts der Aare Wasserwerke besassen, begannen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Wasserräder durch die effizienteren Turbinen zu ersetzen. Vorreiter war die Mühle Lanzrein, die mitten in der Stadt Thun stand und das Wasser von zwei Gewerbekanälen rechts der unteren Schleuse nutzte. Der Müller Adolf Lanzrein hatte dort von 1866 bis 1879 drei Liegenschaften mit den dazugehörenden Gewerbekanälen, Wasserrädern und Wasserrechten gekauft. Im Kanton Bern gab es damals viele Mühlen, was zu einem heftigen Konkurrenzkampf führte, der durch die Eisenbahn noch verschärft wurde, die billiges Mehl aus den grossen Weizenanbaugebieten importierte. Zudem erforderte die technische Entwicklung der Müllerei kostspielige Investitionen. Adolf Lanzrein besass die grösste Mühle in der Region Thun, konnte sich die Neuerungen leisten und seinen Betrieb in den 1880er Jahren zu einer leistungsfähigen Industriemühle ausbauen. 1886 erhielt er von der Stadt die Bewilligung für den Einbau einer neuen, eisernen Turbine anstelle von fünf älteren Turbinen. Mit der neuen 100 PS Turbinenanlage produzierte er allerdings weiterhin Wasserkraft. Erst 1928 elektrifizierte die Nachfolgefirma Mühlen AG Thun Interlaken die Thuner Mühle. 1982 wurde der Standort Thun zugunsten eines Neubaus im Burgholz (Diemtigen) aufgegeben, da hier mitten in der Altstadt keine räumliche Expansion möglich war.

Der Plan der Mühle Lanzrein entstand 1895, weil Lanzrein damals den Unteren Mühlenkanal umbauen wollte. Die zwei grossen, leistungsfähigen Turbinen standen je in einem der beiden Mühlenkanäle, die unter dem grossen Mühlegebäude durchliefen. (Quelle: Staatsarchiv Bern, AA 1358)

Zwei weitere grosse Gewerbebetriebe, die Mechanischen Werkstätte von Jakob Aeschlimann und die Möbelfabrik von Friedrich Zwahlen, befanden sich etwas oberhalb der Mühle auf der anderen Aareseite und nutzten dort die Wasserkraft.

Der Mechaniker Jakob Aeschlimann (1824–1884) erwarb 1860 in diesem Gebiet ein Wohnhaus mit einer Öle und einer Walke. Dieses brach er ab und baute ein neues Wohnhaus. Vom Regierungsrat erhielt er die Erlaubnis «im Plainpied eine mechanische Werkstätte mit den nötigen Feueressen und zwei Wasserhämmern in Verbindung mit einer Schleife, Walke und Mange zu errichten, unter Beibehaltung der bisherigen Wasserkanäle.»1874 kaufte Aeschlimann zudem Schrämlis Liegenschaft mit der Reibe auf. Nun besass er drei Kanäle mit den dazugehörenden Turbinen. Nach Aeschlimanns Tod 1884 führten seine Witwe und sein Sohn Arnold den Betrieb weiter, der 1895 13 Personen beschäftigte. 1896 erhielt Arnold Aeschlimann vom Regierungsrat die Bewilligung, überschüssige Wasserkraft in elektrische Energie umzuwandeln und diese für Beleuchtungszwecke zu nutzen. Er verbrauchte nicht den gesamten Strom selbst, sondern lieferte ihn auch über eine Freileitung, die auf privatem und öffentlichem Boden stand, ans «Bierhaus zum Steinbock» im Bälliz. Das war zwar erlaubt, Aeschlimann musste dafür aber eine Bewilligung des Gemeinderates einholen. 1920 stellte die Firma Aeschlimann den Betrieb ein. Deshalb konnten die Licht- und Wasserwerke, die ständig unter Produktionsknappheit litten, 1926 die dortige Wasserkraftanlage mieten, die sie erst 1970 ausser Betrieb nahmen.

Der Tapezierer Friedrich Zwahlen (1844–1927) besass seit 1866 ein Möbelgeschäft im Bälliz, wo er Bettwaren und Möbel produzierte, die seine Frau im Laden verkaufte. Er vertrieb seine Produkte zudem in der ganzen Schweiz, wobei er sich auf Möbel für Hotels, Spitäler und Heime spezialisierte. In seinem Fabrikbetrieb, den er stetig vergrösserte, beschäftigte er bis zu 45 Arbeiter. Im Gebiet der alten Öle erwarb Zwahlen das oberste Gebäude vis-à-vis des Freienhofs und ersetzte 1895 die bisherige Turbine durch eine effizientere 17 PS Turbine. Damit produzierte er elektrische Energie, die er mit einer Starkstromleitung längs dem Flussbett der Aare zu seinen Liegenschaften im Bälliz leitete. Die Elektrizität verwendete er dort nicht nur zur Beleuchtung, sondern auch für den Antrieb von Maschinen. Zwahlen gehörte zu den reichsten Thunern und war von 1896 bis 1901 Gemeindepräsident. 1924 verkaufte Zwahlen die Firma seinem langjährigen Mitarbeiter Alfred Scharnhorst; dessen Sohn und Nachfolger gab sie 1971 auf.

Ein unmittelbarer Nachbar: Die Selve

Gustav Selve kam nicht von ungefähr nach Thun. Er war schon zuvor Lieferant für die Militärbetriebe gewesen. Die Armee interessierte sich für die Gründung eines Metallwerks in Thun, denn sie wollte nicht, dass die Munitionsfabrik im Kriegsfall von Produkten aus dem Ausland abhängig war. Im Oktober 1894 verkaufte die Gemeinde Thun Gustav Selve 1’400 m2 Boden ober- und unterhalb des ehemaligen «Elektrizitätswerks», das ihm ja schon gehörte, zu einem sehr mässigen Preis. Das Protokoll des Gemeinderats hob hervor, dieser tiefe Verkaufspreis sei nur mit Rücksicht auf die Einführung einer neuen Industrie in Thun, respektive zur Förderung dieser zustande gekommen. Der neue Besitzer übernahm von der Firma «Elektrizitätswerk Thun» die Transmission und die Pacht für 20 PS Wasserkraft aus dem Grundwasserpumpwerk mit der Option, künftig noch mehr Energie von der Gemeinde Thun zu beziehen. Weil abzusehen war, dass die Selve – ein Metallverarbeitungsunternehmen – in Zukunft tatsächlich mehr Energie konsumieren würde, erwog die Stadt den Einbau einer dritten Turbine in das Grundwasserpumpwerk, entschied sich jedoch wegen des allgemein rapid steigenden Energiebedarfs für den Bau eines Elektrizitätswerks, wofür sie 1895 die Konzession erhielt. Ein Jahr später nahm das städtische Elektrizitätswerk Thun den Betrieb auf.

Im November 1895 wurde die Firma von Gustav Selve, die Schweizerischen Metallwerke Selve, ins Handelsregister eingetragen. In den nächsten Jahrzehnten entstand oberhalb des Elektrizitätswerks an der Scheibenstrasse ein umfangreicher Industriekomplex mit Walzwerken, Drahtziehereien, Schmelzöfen, Giessereien, Lagerhallen, einer Werkzeugmacherei sowie einer Reparatur- und Elektrowerkstatt. Die Selve stellte zuerst Metallteile für die Munitionsfabrik auf dem Waffenplatz her, ab 1898 produzierte sie auch für andere Abnehmer Bleche, Drähte und Stangen zur Weiterverarbeitung sowie Münzrohlinge für die Münzstätte Bern. Schon bald war die Selve – die Militärbetriebe ausgenommen – die grösste Arbeitgeberin in der Region Thun.

Der Standort der Selve zwischen dem alten Bahnhof und der Aare war für den Industriebetrieb ideal: Die Eisenbahn brachte die Ausgangsprodukte für die Produktion und die Kohlen für die Befeuerung der Öfen und transportierte die Halbfertigprodukte zur Kundschaft. Doch auch der Gewerbekanal, dessen Einleitung aus der Aare sich auf der Höhe des Selveareals befand, kam dem Industriebetrieb zugute. Das Walzwerk zum Walzen von Messingplatten war direkt an ein Wasserrad im Gewerbekanal gekuppelt. Überdies schloss die Selve 1907 mit der Stadt Thun einen Wasserrechtsvertrag ab, um mit dem Wasser des Gewerbekanals eine Turbine anzutreiben, die eigenen Strom für das Werk produzierte. 1911 betrieb die Selve Wassermotoren mit insgesamt 200 PS und Elektromotoren mit 200 PS. Kein anderer Industriebetrieb in Thun – mit Ausnahme der Licht- und Wasserwerke Thun – besass damals kräftigere Maschinen, nicht einmal die Militärbetriebe.

1947 kaufte die Selve der Stadt das Areal der Dampfzentrale ab. Weil es nun an der Scheibenstrasse keinen weiteren Platz zur Expansion gab, verlagerte sie einen Teil der Produktion nach Uetendorf. Die Selve florierte weiterhin, bis sie in der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre wegen allgemeiner Überkapazitäten in der Metallverarbeitungsindustrie in Schwierigkeiten geriet, von denen sie sich nicht mehr erholte. Der umstrittene Financier Werner K. Rey erwarb die Aktienmehrheit und fusionierte die Selve 1986 mit den Metallwerken in Reconvillier und Dornach. 1991 wurde der Standort Thun geschlossen, weswegen die Stadt Thun 430 Industriearbeitsplätze verlor.

Die Energieversorgung der Eidgenössischen Militärbetriebe

1863 nahmen die Eidgenössische Reparaturwerkstätte Thun und das Feuerwerk-Laboratorium auf dem Waffenplatz ihren Betrieb auf; 1874 wurden sie zur Eidgenössischen Konstruktionswerkstätte (K+W) und zur Eidgenössischen Munitionsfabrik (MF+T) erweitert. Die K+W konstruierte und produzierte Geschütze, Feldfahrzeuge, Eisenbahnwagen, Flugzeuge, mobile Werkstätten, Küchen, Schiffe und viele weitere militärische Ausrüstungsgegenstände. Die Munitionsfabrik entwickelte und produzierte die Geschosse für die Gewehre und die Artillerie sowie Handgranaten. Die Militärbetriebe waren über Jahrzehnte hinweg die grössten Arbeitgeber in der Region Thun. Wichtigster Kunde war immer die Armee, die zahlreiche Aufträge an Zulieferfirmen in der Region vergab und so die regionale Wirtschaft förderte.

Schmiede der Eidgenössischen Konstruktionswerkstätte Thun um 1920. Wie fast überall wurden auch hier die Transmissionswellen an der Werkhallendecke befestigt. Von dort aus führten Drahtseile oder Riemen die Energie zu den einzelnen Maschinen. (Quelle: 125 Jahre Eidgenössische Konstruktionswerkstätte Thun. Thun 1988.)

Der Waffenplatz und die Militärbetriebe waren auf Licht und Energie angewiesen. Zur Beleuchtung der Gebäude bezog die Armee Gas von der Stadt Thun. Die Energieversorgung für ihre Fabriken stellte sie mit einer Dampfzentrale sicher, die mit Kohle betrieben wurde und die Antriebsenergie über Transmission zu den Werkstätten lieferte. Zwar waren die Kohlen über die Eisenbahn leicht zu beschaffen, doch der Import aus dem Ausland war krisenanfällig. Deshalb war der Gewerbekanal, den die Stadt 1883 für das Grundwasserpumpwerk erstellen wollte, auch für die Armee interessant. Sie unterstützte den Bau und konnte so am Kanal unterhalb des städtischen Werks auf dem Armeegelände und in der Nähe ihrer Fabriken ein eigenes Turbinenhaus mit zwei Turbinen erstellen.

Die Wasserkraft wurde mit einer unter der Bahnlinie durchgeführten Welle zur Konstruktionswerkstätte und über eine Seiltransmission zur Munitionswerkstätte übertragen. Diese Kraftübertragung war störungsanfällig. Heissgelaufene Wellenlager, rutschende Drahtseile, Seilrisse und weitere Probleme führten immer wieder zu Arbeitsunterbrüchen. Zudem erhielten die Militärbetriebe in den 1880er und 1890erJahren weitere Aufgaben zugewiesen, sodass mit den Dampfmaschinen und der Wasserkraftanlage nicht mehr genug Energie produziert werden konnte.

1901 erstellte die Armee deshalb ein eigenes Elektrizitätswerk mit zwei Turbinen und zwei Gleichstromdynamos am Gewerbekanal. Die Stromabgabe erfolgte über ein Leitungsnetz zu allen wichtigen Gebäuden der Militärbetriebe. Ausserdem konnte nun endlich auch die Armee vom Gaslicht auf elektrisches Licht umstellen. Weil die Produktionskapazitäten aber immer noch nicht ausreichten, wurde das Turbinenhaus 1904 erweitert und eine dritte Turbine eingebaut. Schon bald war das Kraftwerk ausgelastet, weswegen die Armee 1915 mit der Stadt Thun einen Vertrag zwecks Stromlieferung abschloss. 1934 baute sie ein neues Turbinenhaus mit zwei Turbinen und stellte auf Wechselstrom um. Von nun an bezog der Waffenplatz zusätzlich Elektrizität von den Bernischen Kraftwerken (BKW), aber weiterhin auch von der Stadt Thun. Das alte Turbinenhaus nahm die Armee ausser Betrieb, demontierte die drei Turbinen und baute eine der ehemaligen Turbinenkammern zu einer Pumpanlage um, mit der sie seither Spül- und Kühlwasser für die Munitionsfabrik und die Konstruktionswerkstätte aus der Aare pumpt.

Auswirkungen der Elektrifizierung auf die Arbeit

Die Elektrifizierung band die Fabriken in ein grosstechnisches System ein. Auf Gedeih und Verderb waren sie nun abhängig von dessen Funktionieren. Störungen in den Elektrizitätswerken oder Unterbrüche im Leitungsnetz konnten nur kompensiert werden, wenn noch andere Energiequellen wie eine Dampfmaschine oder eine eigene Turbine zur Stromproduktion zur Verfügung standen. Ansonsten stand die Produktion still. Auf die Arbeitsbedingungen hatte die Elektrifizierung vielfältige und ganz unterschiedliche Auswirkungen, wovon hier nur ein kleiner Teil behandelt werden kann.

Seit Beginn der Industrialisierung war die Arbeitszeit ein zentrales Element im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen, denn die Fabrikbesitzer dehnten die Arbeitszeiten möglichst aus, damit sich ihre Investitionen besser rentierten. Die Arbeitskräfte in den Fabriken arbeiteten in der Regel länger als jene in den Handwerks- und Gewerbebetrieben. Bereits das Gaslicht hatte in grossen Hallen die Verlängerung der Arbeitszeit bis in die Dunkelheit ermöglicht. Mit der Einführung der Glühbirne, die im Gegensatz zum Gaslicht keine Abgase produzierte, konnte auch in Betrieben mit kleineren Räumen nach Sonnenuntergang und in der Nacht weitergearbeitet werden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter verlangten ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Verkürzung der Arbeitstage. Das eidgenössische Fabrikgesetz 1877 führte den 11-Stunden-Tag ein, während die Arbeiterbewegung für den 8-Stunden-Tag kämpfte. Erst der Generalstreik von 1918, der auch in vielen Thuner Fabriken befolgt wurde, brachte eine starke Verkürzung der Arbeitszeit. Das revidierte Fabrikgesetz verankerte 1919 die 48-Stunden-Woche, ermöglichte aber viele Ausnahmen, die oft genutzt wurden. Erst die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre verhalf der 48-Stunden-Woche zum Durchbruch.

Transmissionsanlagen stellten für die Arbeitskräfte eine Gefahr dar: In den Riemen konnten sich Kleidungsstücke oder lange Haare verfangen, manchmal sprangen die Riemen von den Laufrädern ab oder sie rissen und trafen wie Peitschen in der Nähe stehende Arbeiterinnen und Arbeiter. Schnelle Notabschaltungen gab es keine. Die Fabrikinspektoren, die ab 1878 auch die Thuner Industriebetriebe regelmässig kontrollierten, achteten deshalb darauf, dass Frauen, die in Betrieben mit Transmission arbeiteten, ihre Zöpfe eng am Kopf aufsteckten. 1889 passierte in Thun an der Transmission vom Grundwasserpumpwerk zur Schiefertafelfabrik ein schwerer Arbeitsunfall, der exemplarisch die Gefährlichkeit dieser Anlagen aufzeigt: Ein Arbeiter sollte jene Stelle zwischen dem Grundwasserpumpwerk und der Fabrik warten, wo an einem hohen Eisengestell das Drahtseil über Zahnräder lief. Weil er auf das Gestell kletterte, bevor die Anlage stillstand, wurde seine Arbeitsschürze vom horizontalen Zahnrad erfasst: «Der Bedauernswürdige wurde nun (…) mit grosser Geschwindigkeit herumgewirbelt, wobei die Beine und der Kopf mit solcher Wucht an die eisernen Gerüststützen angeschlagen wurden, dass ganze Stücke des menschlichen Körpers davonflogen. Besinnungslosigkeit und Tod müssen in kürzester Zeit eingetreten sein.» Trotz des Unfalls, der in den lokalen Zeitungen eine Diskussion über die Schuldfrage auslöste, lieferte das Grundwasserpumpwerk noch bis 1898 Energie über die Transmissionsanlage zur Schiefertafelfabrik. Das Verschwinden der Transmissionsanlagen durch die Elektrifizierung bedeutete für viele Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter eine Erleichterung, denn damit fiel eine grosse Gefahrenquelle in vielen Industriebetrieben weg.

Obwohl zahlreiche Gewerbe- und Industriebetriebe Wasserwerke zum Antrieb ihrer Maschinen besassen, war der weitaus wichtigste Energieträger von 1850 bis 1960 die Kohle. Sie wurde für Heizzwecke, aber auch für den Antrieb von Dampfmaschinen verwendet. Diese wandelten thermische Energie in Bewegungsenergie oder über einen Generator in elektrische Energie um. Arbeiter schaufelten die Kohlen in die Heizbehälter, eine körperliche Schwerstarbeit, die in heissen, staubigen Räumen erledigt wurde. Zahlreiche Kohlenarbeiter litten deshalb unter einer Staublunge.

Ernst Straubhaar war bei den Licht- und Wasserwerken Thun angestellt und arbeitete im Gaswerk. 1910, an seinem 67. Geburtstag, liess er sich beim Kohleschaufeln ablichten. Das Gaswerk Thun stellte 1967 auf Spaltgas um, das aus Leichtbenzin produziert wurde. Damit fiel das ungesunde Hantieren mit Kohlen und Koks weg. (Quelle: Stadtarchiv Thun)

In der Region Thun betrieben 1895 drei Firmen Dampfmaschinen mit insgesamt etwa 20 PS, 1911 waren es vier Firmen, die Dampfmaschinen mit insgesamt 100 PS besassen. Die Licht- und Wasserwerke in Thun verfeuerten in ihrer Dampfzentrale ab 1907 Kohle, um mit einer 500 PS Dampfturbine über einen direkt gekuppelten Generator Strom zu erzeugen, und im Gaswerk produzierten sie Kohlen Stadtgas und Koks. 1931 ersetzten sie die Dampfturbine durch einen Dieselmotor mit einem Generator, der nicht nur doppelt so viel PS produzierte, sondern auch sauberer in der Handhabung und damit gesundheitsschonender für die Arbeiter war.

Die Gastronomie und Hotellerie, wo Sauberkeit höchste Priorität hat, stellte möglichst rasch von Kerzen-, Petrol- und Gaslicht auf elektrisches Licht um. In den Restaurant- und Hotelküchen verdrängte zuerst das Gas, dann die Elektrizität den Kohleherd. Die russgeschwärzten Restaurantwände und Küchen wurden sauber und blitzblank weiss. Vorreiter in Thun war der Politiker, Brauer und Restaurantbesitzer Gottfried Feller, der schon 1891 elektrisches Licht in seinem Restaurant einrichtete und in den nächsten Jahren die Errichtung eines Elektrizitätswerks in Thun forderte, weil die Hoteliers in Hofstetten an elektrischem Licht interessiert seien. Einige Jahrzehnte später, als die Elektrizität in den Restaurants eine Selbstverständlichkeit geworden war, schafften sie elektrisch betriebene Kühlräume, Kühlschränke und noch etwas später Kühltruhen an. Dies verbesserte die Hygiene und vereinfachte die Lagerhaltung von Lebensmitteln massiv. Es konnten nun mehr Lebensmittel länger gelagert und vorgekocht werden, was die Planung der Menükarte vereinfachte und gleichzeitig das Menüangebot vervielfachte.

Die Gefahr der Elektrizität

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als immer häufiger Nieder- und Starkstromleitungen installiert wurden und sich in den Zeitungen Berichte über tödliche Arbeitsunfälle durch den Kontakt mit Stromleitungen häuften, machte sich in der Bevölkerung ein Unbehagen breit. Dieses wurde noch verstärkt, als eine Versicherungszeitschrift festhielt, auch die in den Wohnungen verlegten Lichtstromkabel seien mit 120 Volt Spannung potenziell lebensgefährlich. Der Direktor der Thuner Licht- und Wasserwerke sah sich 1898 gezwungen, in den Thuner Zeitungen auf «diese, wie uns scheint tendenziösen Ausstreuungen» zu reagieren: «einstweilen nur so viel zur Beruhigung, dass unseres Wissens, für sehr nervöse Personen der elektrische Strom erst bei über 200 Volts Spannung tödlich zu werden beginnt, für Stärkere sogar nach 300.» Die Hochspannungsleitungen in Thun seien «dem Publikum absolut nicht zugänglich» und die 120 Volts-Beleuchtungsleitungen führten keiner Strasse entlang. Deshalb bestehe keine Gefahr für das Leben, «in unseren Augen, solange wir nicht von kompetenter Seite eines Besseren belehrt und überzeugt werden, absolut nicht, sonst wären längst keine Monteure für elektrische Lichtinstallationen mehr vorhanden.»

Ganz so eindeutig war die Situation nicht, gerade auch, weil sich unter den Toten durch Stromschläge häufig Elektriker und Industriearbeiter befanden. 1899 hielt der Bundesrat in seiner Botschaft zum Bundesgesetz über Schwach- und Starkstromleitungen fest, dass auch Schwachstromleitungen gefährlich sein können. Es sei jedoch unmöglich, die Gefahren durch elektrische Leitungen zu beseitigen: «Daher sollen in allen Betrieben, welche gefährliche Spannungen zur Verwendung bringen, Warnungstafeln angebracht werden, auf denen in wenigen Worten eindringlich und auffällig auf die Gefahren aufmerksam gemacht wird.» Der Tägliche Anzeiger für Thun und Umgebung begrüsste die Massnahme, denn mit dem Aufbau der Stromversorgung werde schon bald ein Netz von Drähten das Land durchziehen. Deshalb sei es nötig, die Menschen über die Gefährlichkeit der Elektrizität aufzuklären: «Man kann auf diesem Gebiet eigentlich nicht sagen: Durch Schaden wird man klug! – Wer so mit einer Stromleitung in Berührung kommt, hat in der Regel nachher nichts mehr übrig, um noch klug zu werden.»

Schaut man allerdings die Unfallstatistik an, so waren tödliche Unfälle, die mit der Elektrizität in Verbindung standen, äusserst selten. 1899 kamen in der Schweiz 2049 Menschen durch «Verunglückungen» ums Leben, im Kanton Bern waren es 365. Davon starben in der Schweiz neun wegen eines Stromschlags, im Kanton Bern lediglich zwei. Zumindest in diesem Jahr war die Elektrizität sowohl in der Schweiz wie auch im Kanton Bern in weniger als einem Prozent aller tödlichen Unfälle Schuld. Trotzdem wurde die Elektrizität weiterhin als Gefahr für Leib und Leben wahrgenommen. Das mochte damit zusammenhängen, dass diese Unfälle aus der ganzen Schweiz oder gar aus dem Ausland häufig in den lokalen Zeitungen rapportiert wurden. Zudem empfanden viele Menschen die Elektrizität auch als etwas unheimlich, denn ihre Wirkungsweise war unsichtbar und sie barg Gefahren, die nicht so offensichtlich waren wie offenes Feuer oder die rotierenden Räder und Bänder der Transmission. Die Elektro- und die Maschinenindustrie reagierten, indem sie die Leitungen wo immer möglich isolierten und die Maschinen so konstruierten, dass die unter Strom stehenden Teile gut eingekapselt waren und daher nur Spezialisten diese freilegen und reparieren konnten.

Der Weg zur digitalisierten Gesellschaft

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überflügelte der Dienstleistungssektor in vielen europäischen Ländern den Industriesektor. Durch Rationalisierungsmassnahmen in den Industriebetrieben, durch die Auslagerung der Produktion in Billiglohnländer, ab ca. 1970 auch durch die Automatisierung von Produktionsprozessen, die auf der Elektronik- und Computertechnologie basierten, gingen zahlreiche industrielle Arbeitsplätze verloren. In Thun machten das Gewerbe und die Industrie 1955 70 Prozent der Arbeitsplätze aus, 2008 nur noch ein Viertel. Der Rückgang wurde kompensiert durch die Zunahme der Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor, vor allem im Detailhandel, in der öffentlichen Verwaltung sowie im Gesundheits- und im Bildungswesen.

Die Digitalisierung – also die Verwendung von Computern und Netzwerken – ist ohne Elektrizität nicht denkbar. Sie setzte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuerst im Hochschulbereich und im Militär ein, etwas später in den Verwaltungen und in den Grossunternehmen. Bald veränderte sich auch der Arbeitsalltag in der Thuner Verwaltung. 1966 nahm die Stadt einen Magnetkarten Computer in Betrieb, um die Steuerrechnungen und Lohnabrechnungen für das Personal effizienter erledigen zu können, und 1984 führte die Stadtkanzlei die Textverarbeitung auf Computern ein. Seit der Mitte der 1980er Jahre verbreitet sich der Personal Computer im Kleingewerbe und bei Privatpersonen. Der Zugang zum Internet wurde um 1994 zur allgemeinen Benutzung freigegeben, einige Jahre später wurde auch die Telekommunikation auf digitale Technik umgestellt. Seither hat die Digitalisierung fast alle sozialen Schichten und Lebensbereiche erfasst.

Erika Mauer, Mitarbeiterin der Gemeindeausgleichskasse, freut sich 1984 über den neuen Personalcomputer, der ihr künftig die Arbeit erleichtern sollte. (Quelle: Stadtarchiv Thun)

Selbstverständlich veränderte die Automatisierung und Digitalisierung auch die Industriearbeit. Die Aussicht, zahlreiche Arbeitsgänge irgendwann durch Roboter ausführen zu lassen, beunruhigte schon in der Zwischenkriegszeit. Die Neuen Zürcher Nachrichten besprachen 1923 ein heute längst vergessenes Theaterstück «ein phantastisches Zukunftsdrama, worin der Gedanke von der fortschreitenden Mechanisierung und Entgeistung des Lebens absurdum geführt wird.» Die Zukunftsvision war wahrlich beängstigend: «Die Ingenieursfamilie Werstand hat das Geheimnis der Herstellung künstlicher Menschen gefunden und fabriziert nun diese sogen. Roboter (Maschinenmenschen), denen bis auf die Beseelung nichts zum wirklichen Menschen fehlt, gleich massenweise, um sie als billigste Arbeitskräfte auf den Markt zu werfen. Der Gattin des leitenden Fabrikherrn graust es vor der Zukunft: die Menschheit geht dem Untergang zu, da die Roboter die ganze Arbeit verrichten und die fehlende Arbeit den Menschen unfruchtbar macht.»

1948 publizierte das Oberländer Tagblatt, die Vorgängerzeitung des Thuner Tagblatts, einen viel nüchternen Bericht mit dem Titel «Fabrik ohne Arbeiter». Er erwähnt zwar ebenfalls die Möglichkeit, dass der gesamte Produktionsprozess in einem Industriebetrieb durch den Einsatz von Robotern automatisiert werden könnte. Trotzdem seien nicht alle Menschen zur Arbeitslosigkeit verdammt: «Denn keine Maschine kann denken. Das Denken ist das Vorrecht des Menschen. (…) Wohl kann die Maschine dem Menschen die körperliche Arbeit abnehmen, grössere Leistungen binnen einem bestimmten Zeitraum erreichen, genauer als der Mensch arbeiten, stärkere Kräfte entwickeln, aber sie kann nur das bewerkstelligen, was der denkende Mensch in sie hereingearbeitet hat.»

Einen grossen Schritt zur Entwicklung eines Roboters, der selbständig Arbeitsschritte vollbringen kann, machte der US-Amerikaner George Devol (1912–2011). Er erfand ein Verfahren zur Maschinensteuerung, das er 1954 patentieren liess. Zwei Jahre später entwickelte er den ersten programmierbaren Industrieroboter. Dieser besass einen Arm, der mehrere Befehle ausführen konnte, die auf einer Magnettrommel gespeichert waren. 1961 wurde er von der Firma Ford in der Herstellung von Autos eingesetzt. Mit rund 10 Jahren Verspätung begann auch die europäische Autoindustrie Roboter einzusetzen, und bald darauf entdeckte die Logistikbranche ebenfalls die Vorteile der Roboter, die mit grossen Lasten besser zurechtkamen als die Arbeiterinnen und Arbeiter.

Heute spielen Roboter in sehr vielen Arbeitsbereichen eine grosse Rolle. Sie entlasten die Arbeitskräfte nicht nur von körperlicher Schwerarbeit, sondern führen Präzisionsarbeiten aus, die der Mensch nicht leisten könnte. In den meisten Fabriken sind die Automatisierung und die Robotik zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Doch auch ausserhalb von Industriebetrieben finden Roboter eine breite Anwendung, wie zum Beispiel in der Medizin, wo sie bei vielen chirurgischen Eingriffen und in der Forschung eingesetzt werden. Im militärischen Bereich übernehmen sie Explorations-, Navigations- und Datenerfassungsaufgaben in gefährlichen Situationen und auf rauem Terrain.

An unseren alltäglichen Aufgaben sind sie ebenfalls immer häufiger beteiligt. Die Idee des «Smart Home» reicht bis in die Zwischenkriegszeit zurück. 1922 drehten Buster Keaton und Eddie Cline die Stummfilmkomödie «Electric House», in der alle möglichen «electric devices» einer grossbürgerlichen Familie das Leben erleichtern sollten. Dabei ist der Blick der beiden Filmemacher ebenso kritisch wie jener von Charlie Chaplin in der berühmten Fabrikszene im Kinofilm «Modern Times» von 1936.

Die Automatisierung und Digitalisierung der Wirtschaft, des Militärs und des Alltags ist weiterhin Gegenstand von Diskussionen. Verlieren wir dadurch Arbeitsplätze oder werden Arbeitsplätze geschaffen? Verlieren wir Autonomie oder gewinnen wir mehr Freiräume? Wird der Mensch mit der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz überflüssig, wie es schon die Direktorengattin im Theaterstück von 1922 befürchtet hat? Klar auf jeden Fall ist, dass die Digitalisierung der Gesellschaft auf der Verwendung von Elektrizität basiert – ohne die Entwicklung der Elektrotechnik und die Bereitstellung des elektrischen Stroms durch die Elektroindustrie wäre sie nicht möglich gewesen.